Betriebliche Übung im deutschen Arbeitsrecht
Als betriebliche Übung wird ein freiwilliges Verhalten eines Arbeitgebers bezeichnet, das zu identischen Konditionen regelmäßig wiederholt wird. Aufgrund dieser mehrfachen Wiederholung darf der Arbeitnehmer auch in Zukunft auf das entsprechende Verhalten vertrauen. Daher kann aus einer zunächst freiwilligen Leistung durch den Arbeitgeber ein Rechtsanspruch des Arbeitnehmers auf genau diese Leistung entstehen.
Bekannte Beispiele für die Ansprüche, die auf einer betrieblichen Übung basieren, sind Sonderzahlungen wie
- Weihnachtsgeld
- Übernahme von Fortbildungskosten
- Essensgeldzuschüsse
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) geht in ständiger Rechtssprechung von der Rechtmäßigkeit der Entstehung von Ansprüchen aufgrund betrieblicher Übung aus. Die regelmäßige Wiederholung von Leistungen seitens des Arbeitgebers ist für das BAG ein Vertragsangebot, das der Arbeitnehmer bei Inanspruchnahme der Leistung stillschweigend annimmt. Diese stillschweigende Annahme eines Angebots ist in § 151 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs normiert.
Gibt es die betriebliche Übung auch im Gesetz?
Nachdem das BAG das Rechtsinstitut der betrieblichen Übung dauerhaft im deutschen Arbeitsrecht etabliert hat, hat sich auch der Gesetzgeber zum Beispiel in § 1b Absatz 1 Satz 4 Betriebsrentengesetz für die Anerkennung von betrieblichen Übungen entschieden. Im Betriebsrentengesetz sind die Rechte und Pflichten der Arbeitnehmer hinsichtlich der über die gesetzliche Rente hinausgehenden betrieblichen Altersversorgung geregelt.
Die betriebliche Übung sorgt in der Arbeitswelt für Planungssicherheit der Arbeitnehmer, denn sie können sich auf neu entstandene Ansprüche verlassen. Doch auch für Arbeitgeber ist dieses Rechtsinstitut praktisch, wenn sie ohne weitere Vertragsverhandlungen ihren Mitarbeitern zusätzliche Leistungen gewähren möchten.
Einzelheiten rund um die betriebliche Übung
Im alltäglichen Sprachgebrauch bedarf es für Übungen eines längeren Zeitraums. Dies gilt auch für die arbeitsrechtlich durch das BAG verankerte betriebliche Übung. Das BAG hat in seinem grundlegenden Urteil zum Weihnachtsgeld aus dem Jahr 1996 die Mindestdauer der regelmäßigen Zahlung für die Entstehung eines Anspruchs aus Betriebsübung festgelegt.
Wenn ein Arbeitgeber drei Jahre hintereinander vorbehaltlos Weihnachtsgeld oder Urlaubsgeld an seine Arbeitnehmer zahlt, das nicht im Arbeits- oder Tarifvertrag zugesichert ist, dann entsteht mit der dritten Zahlung ein Rechtsanspruch. Besonders wichtig an diesem Urteil des BAG ist das Wort “vorbehaltlos”.
Tipp: Achten Sie auf freiwillige Leistungen Ihres Arbeitgebers
Sammeln Sie Ihre Lohnabrechnungen, in denen Ihr Arbeitgeber Ihnen ein Weihnachtsgeld zusätzlich zu Ihren vereinbarten Rechten gewährt hat. Wenn nicht in geeigneter Form auf den Vorbehalt hingewiesen wird, entsteht eine betriebliche Übung.
Zahlt der Arbeitgeber Zusatzleistungen zum Beispiel unter dem Vorbehalt der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Unternehmens, dann kann keine betriebliche Übung entstehen. Dieser Vorbehalt betont die Freiwilligkeit jeder einzelnen Zahlung, sodass der Arbeitnehmer von einer jährlich neu durch den Arbeitgeber zu treffenden Entscheidung ausgehen muss.
Transparenzgebot beim Vorbehalt der Freiwilligkeit der Betriebsübung
Die Rechtmäßigkeit der Klauseln in Formulararbeitsverträgen wird an den Bestimmungen über die Allgemeinen Geschäftsbedingungen gemessen. Deshalb wird auch ein erklärter Vorbehalt für die Gewährung einer Sonderleistung anhand dieser strengen Kriterien beurteilt. Insbesondere unangemessene Benachteiligungen können der Wirksamkeit eines Vorbehalts entgegenstehen.
Eine unklare und unverständliche Bestimmung verstößt gegen das Transparenzgebot nach § 307 Absatz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches und ist eine unangemessene Benachteiligung. Kann ein Arbeitnehmer nicht erkennen, dass er nach der einmaligen Zahlung einer Sonderleistung keinen Anspruch auf eine weitere Leistung derselben Art hat, dann verstößt der Freiwilligkeitsvorbehalt gegen das Transparenzgebot.
Tipp: Ansprüche bei zweifelhaft formulierten Vorbehalt direkt anmelden
Wird eine Leistung in einer Vertragsklausel zugleich als “freiwillig” und als “widerruflich” bezeichnet, ist die Klausel gemäß § 307 Abs.1 Satz 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) für Sie als Arbeitnehmer unverständlich und daher unwirksam. Denn der Freiwilligkeitsvorbehalt besagt ja, dass ein Anspruch nicht besteht.
Arbeitgeber müssen daher sehr genau bedenken, in welcher Form und mit welchen Worten sie ihre Mitarbeiter über die Freiwilligkeit einer Sonderleistung wie Urlaubsgeld, Bonuszahlung, Fahrgeldzuschuss und Zusatzurlaub am Rosenmontag informieren. Eine gern gezahlte Gratifikation kann rasch zur Belastung für das Unternehmen werden.
Kann die betriebliche Übung seitens des Arbeitgebers auch rückgängig gemacht werden?
Im Gegensatz zur früheren Rechtsprechung, die das Rechtsinstitut der “gegenläufigen betrieblichen Übung” kannte, verneint das BAG seit dem Jahr 2009 die Möglichkeit des Arbeitgebers die entstandenen Ansprüche der Arbeitnehmer einseitig rückgängig zu machen. Sollte Ihr Arbeitgeber drei Jahre lang nach Entstehen einer betrieblichen Übung keine Sonderzahlung gewähren, können Sie die Leistung komplett nachträglich einfordern. In diesem Fall muss ein Änderungsvertrag geschlossen werden.
Ihr Schweigen gilt in der Regel nicht als Verzicht oder als Zustimmung zur Rückgängigmachung der betrieblichen Übung. Wie für die meisten zivilrechtlichen Ansprüche greift die dreijährige “Silvesterfrist” nach den Paragraphen 195 und 199 des Bürgerlichen Gesetzbuches. Die Verjährungsfrist beträgt drei Jahre zum Jahresende.
Was regelt ein privatrechtlicher Vertrag?
In einem privatrechtlichen Vertrag einigen sich die beiden Parteien über ihre Rechte und Pflichten. Eine einvernehmliche Einigung ist Grundbedingung für jede Vertragsklausel. Daher kann keine Vertragspartei einseitig eine vereinbarte Klausel ändern. Ein Anspruch aus betrieblicher Übung entsteht durch ein Angebot. Eine stillschweigende Annahme hat dieselbe Rechtsqualität wie jede andere arbeitsvertragliche Vereinbarung.
Da eine betriebliche Übung trotz des Maßstabes der AGB-Kontrolle immer eine individualrechtliche Einigung darstellt, kann sie auch nicht durch eine für alle geltende Betriebsvereinbarung geändert werden. Zudem geht eine überregionale tarifliche Vereinbarung jeder betriebsinternen Regelung sowie zum Teil auch Haustarifen vor.
Tipp: Hilfe für den Durchblick im arbeitsrechtlichen Dschungel
Ein Rechtsanwalt kann Ihre Ansprüche aus Ihrem Arbeitsvertrag prüfen und Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen und betriebliche Übung am besten beurteilen. Denn er kennt das komplizierte Zusammenspiel der vielen verschiedenen Regelungen.
Kann eine betriebliche Übung durch Kündigung beendet werden?
Jede rechtswirksame arbeitsvertragliche Vereinbarung kann durch eine einvernehmliche Änderungsvereinbarung rückgängig gemacht werden. Einseitig kann ein Arbeitgeber sich nur durch eine Kündigung von seinen Verpflichtungen gegenüber einem Arbeitnehmer lösen. Doch wie die normale Kündigung unterliegt auch die Änderungskündigung den Vorschriften des Kündigungsschutzgesetzes.
Wenn Sie von Ihrem Arbeitgeber eine Änderungskündigung erhalten, dann können Sie vor dem örtlich zuständigen Arbeitsgericht Kündigungsschutzklage erheben. Der Protokollbeamte des Gerichts nimmt Ihre Klage für Sie auf, sodass Sie diese nicht selbst schriftlich formulieren müssen. Eine Kündigungsschutzklage muss innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung erhoben werden.
Nach § 2 Kündigungsschutzgesetz können Sie innerhalb dieser Frist auch einen Vorbehalt wegen sozialer Ungerechtfertigkeit erheben. In der Regel lohnt sich eine Kündigungsschutzklage, wenn der Arbeitgeber Ihnen nur wegen der Zahlung Ihres Weihnachtsgeldes kündigt. Nur in echten Härtefällen bei drohender Insolvenz des Arbeitgebers haben diese die Chance eine betriebliche Übung auf diesem Weg rückgängig zu machen.
Gleichbehandlungsgrundsatz für alle Mitarbeiter im Betrieb
Nach dem Antidiskriminierungsgesetz hat jeder Arbeitnehmer in einem Betrieb einen Anspruch auf Gleichbehandlung. Ein Arbeitgeber kann nicht wahlweise einigen Mitarbeitern ein Weihnachtsgeld zahlen und anderen Arbeitnehmern diese Sonderleistung verweigern.
Diskriminierung am Arbeitsplatz und Willkür hat im Arbeitsrecht nichts zu suchen. Jeder Arbeitnehmer muss sich für seine Lebensplanung auf festgelegte Bedingungen bezüglich seines Arbeitsverhältnisses verlassen können.
Profitieren auch neue Mitarbeiter von betrieblicher Übung?
Besteht bei Eintritt eines neuen Arbeitnehmers in den Betrieb ein Anspruch aus betrieblicher Übung auf Urlaubsgeld, Kindergartenzuschuss oder Jubiläumszuwendungen, dann kommt auch der neue Mitarbeiter in den Genuss dieser Leistung. Allerdings dürfen Arbeitgeber in einem individuell vereinbarten Arbeitsvertrag den Anspruch auf diese Sonderleistung ausschließen. Der Ausschluss bedarf einer sachlichen Begründung.
Außerdem kann der Arbeitgeber allen neu eingestellten Mitarbeitern gegenüber einen Freiwilligkeitsvorbehalt erklären. Für diesen Vorbehalt gilt dann aber auch das Transparenzgebot im Sinne der AGB-Kontrolle. Zudem könnte sowohl dem Ausschluss der Sonderleistung als auch einem rechtswirksam formulierten Vorbehalt der Gleichbehandlungsgrundsatz entgegenstehen.
Tipp: Achten Sie in der Presse auf die obergerichtlichen Urteile zum Arbeitsrecht
Aufgrund der sich ständig weiterentwickelnden Rechtsprechung können sich jederzeit Änderungen für Ihr Arbeitsverhältnis bezüglich betrieblicher Übungen und Vorbehaltserklärungen zu Ihren Gunsten ergeben.
Vor- und Nachteile der betrieblichen Übung
Schon nach einem Zeitraum von drei Jahren können sich Arbeitgeber auch unbewusst aufgrund von eigentlich nur als freiwillig geplanten Leistungen dauerhaft zu hohen Zahlungen verpflichtet haben. Für die Entstehung eines Anspruchs aufgrund betrieblicher Übung kommt es nie auf den subjektiven Verpflichtungswillens des Arbeitgebers an, sondern immer nur auf den objektiven Empfängerhorizont des Mitarbeiters.
In wirtschaftlichen Krisenzeiten aber können Sonderzahlungen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld, Gratifikationen sowie Zuschüsse für Kindergarten, Fortbildungen, Parkplätze, Fahrkarten und Essen zu Zahlungsschwierigkeiten führen.
Neue Rechtsprechung zum Freiwilligkeitsvorbehalt
Nachdem das BAG zahlreiche missverständliche Formulierungen eines Freiwilligkeitsvorbehalts als Verstoß gegen das Transparenzgebot gewertet hat, gibt es seit dem Jahr 2011 eine relativ klare Linie für Arbeitgeber. Das BAG hat entschieden, dass Arbeitgeber die Entstehung eines Anspruchs aufgrund von betrieblicher Übung entweder mit Widerrufsvorbehalt oder Freiwilligkeitsvorbehalt verhindern können.
Eine Kombination von Widerruf und Freiwilligkeit im Vorbehalt führt grundsätzlich wegen Widerspruchs zur Unwirksamkeit. Schließlich ist auch ein pauschaler Freiwilligkeitsvorbehalt als Klausel in einem Vertrag für die gesamte Zukunft des Arbeitsverhältnisses unwirksam, denn grundsätzlich sind in erster Linie alle Arbeitsleistungen ohne Ausnahme zu vergüten.