Verhandlung im Kapitalanleger-Musterverfahren

Inwieweit die Anleger Entschädigung vom VW-Konzern verlangen können, wird in einem Kapitalanleger-Musterverfahren, das am Oberlandesgericht Braunschweig verhandelt wird, zumindest grundsätzlich eingeschätzt. Gegenstand des Verfahrens ist die Verantwortlichkeit der einzelnen Führungsebenen. Insbesondere der Zeitpunkt, an dem der Vorstand tatsächlich von den Manipulationen Kenntnis erlangte, spielt die entscheidende Rolle.

Das Kapitalanlage-Musterverfahren gegen VW wurde von der Fondsgesellschaft DEKA stellvertretend für knapp 1.700 Anleger angestrengt. Zur Diskussion stehen Schadenersatzforderungen in einer bisher nie gesehenen Höhe: Fast fünf Milliarden EUR soll der VW-Konzern dafür bezahlen, dass Anleger wegen einer verspäteten Information zu den Abgasmanipulationen die VW-Aktie zu überhöhten Preisen erworben und in der Folge drastische Verluste hätten hinnehmen müssen.

Weitere Klagen im Wert von rund 4,5 Milliarden EUR sind anhängig, werden allerdings nicht von diesem Verfahren abgedeckt.

Hinweis: Definition einer Musterklage

Wollen Sie als Anleger nicht selbst klagen, können Sie laut Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) an einem kostengünstigeren Musterverfahren teilnehmen. In diesem Verfahren werden zwar die relevanten Rechts- und Tatsachenfragen einheitlich gerichtlich entschieden. Es handelt sich dabei nicht um eine Sammelklage, denn die gibt es in Deutschland nicht.

Ablauf der VW-Musterklage

  • In 2016 beschloss das Landgericht Braunschweig, dass die Klagen auf Entschädigung gegen den VW-Konzern in einem Musterverfahren behandelt werden sollen. Zuvor waren beim Landgericht Klagen im Wert von mehr als 9,5 Milliarden EUR eingegangen, 1.600 Verfahren wurden zunächst ausgesetzt, da diese unter das Musterverfahren fallen.
  • Im März 2018 wurde die DEKA Investment GmbH als Musterkläger ausgewählt, eine entsprechende Veröffentlichung erfolgte im elektronischen Bundesanzeiger. Im Anschluss stand es betroffenen Anlegern frei, sich innerhalb der Frist von sechs Monaten für dieses Musterverfahren anzumelden. Dazu musste ein Rechtsanwalt beauftragt werden, was auch rund 2.000 Anleger für sich in Anspruch genommen haben.
  • Im September 2018 wurde die mündliche Verhandlung in Braunschweig eröffnet. Dabei steht insbesondere die Frage im Fokus, ob es relevant ist, dass ein Vorstandsmitglied von der Abschaltautomatik wusste, oder die Kenntnis der leitenden VW-Mitarbeiter ausreicht. Daraus leitet sich ab, wann der VW-Konzern seiner Informationspflicht nach WpHG hätte nachkommen müssen.
  • VW vertritt bislang die Auffassung, dass der Vorstand keine Kenntnis von den Manipulationen hatte, die allein von einem kleinen Kreis von Ingenieuren initiiert worden sei. Auf dieser Grundlage wurden alle Vorwürfe zurückgewiesen.
  • Bis Ende 2018 fanden weitere elf Verhandlungen statt, eine Klärung konnte nicht erreicht werden.
  • Im Frühjahr 2019 wurden weitere Verhandlungstermine wahrgenommen, bislang liegt jedoch nur die vorläufige Einschätzung des Oberlandesgerichtes Braunschweig vor, die keine Rechtskraft hat.

Aktueller Stand: Vorläufige Einschätzung

Mit einer vorläufigen und nicht rechtsgültigen Auffassung sorgte das Oberlandesgericht Braunschweig im milliardenschweren Musterverfahren rund um die VW-Aktie für Aufsehen: Das Gericht sah nämlich durchaus eine Verantwortung der bereits frühzeitig zu den Manipulationen informierten Management-Ebenen unterhalb des VW-Vorstands in Bezug auf mögliche Auswirkungen auf den Kurs der VW-Aktie, was vom VW-Konzern naturgemäß bestritten wird.

Insbesondere die elf Bereichsleiter, darunter die für Produktsicherheit und Motorenentwicklung, wurden hier in Verbindung mit der Ad-hoc-Pflicht aufgeführt.

Hinweis: Bedeutung Ad-hoc-Pflicht

Sind Unternehmen an der Börse notiert, unterliegen sie strengen Pflichten, dazu zählt die Informationspflicht. Sollte es Entwicklungen im Unternehmen geben, die den Aktienkurs beeinflussen könnten, müssen die Anleger informiert werden. Diese Pflicht muss unverzüglich, also ad hoc, erfüllt werden.

Bislang streiten sich die Parteien dazu, ob und wann der eigentlich zur Information verpflichtete VW-Vorstand Kenntnis zu den Manipulationen erhalten hatte. Die Argumentationen gehen dabei weit auseinander: Der das aktuelle Verfahren leitende Richter Christian Jäde sah bei einer solchen Unternehmensgröße nicht nur den Vorstand in der Haftung, da insbesondere beim Thema Motorenentwicklung Spezialwissen vorauszusetzen ist.

Wann hätte VW seine Aktionäre unterrichten müssen?

Auch zu diesem Punkt herrscht noch Unklarheit. Sollte sich bestätigen, dass der Konzern schon im Mai 2014 von den Bedenken der US-amerikanischen Behörden wusste, ließe sich daraus eine Ad-hoc-Mitteilungspflicht ableiten.

Wichtig: Regelung zur Schadenersatzforderung im Wertpapierhandelsgesetz

Das Wertpapierhandelsgesetz (WpHG) sieht im § 37b Abs. 1 Nr. 1 zur Schadensersatzforderung folgende Regelung vor: Ein Aktionär hat dann einen Anspruch, wenn er zu einem Zeitpunkt in eine VW-Aktie investiert hat, zu dem der Konzern schon eine Ad-hoc-Mitteilung hätte herausgeben müssen, dies jedoch schuldhaft versäumt hat.

Die Folge: Der Aktionär hat die VW-Aktie zu teuer erworben.

Die West Virginia University hatte nämlich zu diesem Zeitpunkt eine Studie zu Emissionswerten publiziert, die die Grenzwerte deutlich verfehlt hatten. VW wiederum setzte die Öffentlichkeit zur Manipulationssoftware erst am 22.09.2015 in Kenntnis. Gleichzeitig wurde gemeldet, dass VW 6,5 Milliarden EUR für eventuelle Nachbesserungen zurückgestellt hat.

Ist ein Vergleich denkbar?

Dieser Bereich hat durchaus Relevanz für die gesamte Geschäftsentwicklung und damit auch für den Kurs der VW-Aktie. Vor diesem Hintergrund müssten auch die Bereichsleiter in puncto Ad-hoc-Meldung mit ins Boot genommen werden. Allerdings handelt es sich um eine vorläufige Einschätzung des Oberlandesgerichts, die noch keinen konkreten Hinweis auf den Ausgang des Verfahrens darstellt. Die Rechtssachverhalte sind so komplex und umstritten, dass es hier noch einiger Abwägungen bedarf.

Die VW-Rechtsanwälte ließen nicht lang auf Widerspruch warten. Sie prüfen nun, ob die jeweiligen Bereichsleiter tatsächlich über Informationen verfügten, die den Kurs der VW-Aktie beeinflusst haben. Generell wird hier die Einschätzung, dass die Informationspflicht auch die Bereichsleiter treffen könnte, nicht geteilt, da dies der bisherigen Praxis klar widersprechen würde.

Die Klägerseite bewertete die Einschätzung durch das Oberlandesgericht Braunschweig hingegen positiv. Sie brachte einen Vergleich ins Gespräch, der jedoch von Beklagtenseite zunächst als abwegig eingeschätzt wurde.

Verjährung der Ansprüche

Auch das Thema Entschädigung wirft Fragen auf. Hier zunächst die wichtigsten Punkte. Ob VW-Aktionäre Schadensersatz fordern können, lässt sich jedoch nicht in einem Satz beantworten. Einerseits sollen nur die Anleger, die ihre VW-Aktie erst nach dem 03.09.2015 erworben haben, Anspruch auf Entschädigung haben.

Andererseits sehen Experten auch die Anleger begünstigt, die am 20.09.2015, als die Abgasmanipulationen bekanntgegeben wurden, Inhaber einer VW-Aktie (Stamm- oder Vorzugsaktien) waren. Eine dritte Auffassung sieht eine Schadenersatzpflicht gegenüber all den Anlegern, die die VW-Aktie nach dem 06.06.2008 und vor dem 17.09.2015 erworben haben.

Die unterschiedlichen Auffassungen sind durch das Kleinanlegerschutzgesetz begründet:

  • Die Verjährung könnte bereits gehemmt sein, haben Ankläger bis zum 19.06.2016 ihre Klage gegen VW beim Landgericht Braunschweig eingereicht.
  • Andererseits könnte auch der 31.12.2018 ausgereicht haben, da die einjährige Verjährung bereits zum 10.07.2015 aufgehoben worden und durch die übliche Verjährungsfrist von drei Jahren ersetzt worden war.
  • Allerdings fehlt die übliche Übergangsregelung, sodass eine Klärung insbesondere für die Aktionäre, die bereits vor dem 10.06.2016 Unternehmensanteile gekauft hatten, aussteht.

Wichtig: Frage der Verjährung liegt beim OLG

Grundsätzlich sollte die Verjährungsfrist auf drei Jahre verlängert werden. Deswegen wurde die Frage der Verjährung an das Oberlandesgericht Braunschweig übergeben (Beschluss des LG Braunschweig vom 05.08.2016, Az: 5 OH 62/16, insbesondere S. 17).

Abwägung: Entschädigungshöhe und Verfahrenskosten

Die Prognosen gehen weit auseinander. Einige Rechtsanwälte erwarten Entschädigungen in einem Bereich von 54 bis 60 EUR je VW-Aktie. Für VW Vorzugsaktien, die Sie am 22.9.2015 besessen haben, soll der Kursdifferenzschaden wenigstens 59,50 EUR je VW-Aktie betragen (Beschluss des LG Braunschweig vom 05.08.2016, Az: 5 OH 62/16, insbesondere Seite 17).

Damit sich das Verfahren finanziell für Sie lohnt, sollten Sie bei Ihrer Rechtsschutzversicherung abklären, ob sie die Kosten für ein Verfahren gegen Volkswagen trägt. Dafür muss sie bereits zu dem Zeitpunkt aktiv gewesen sein, als Sie die VW-Aktie erworben haben. Nur dann lohnt sich eine Deckungsanfrage.

Beachten Sie bitte, dass bei jüngeren Verträgen der Versicherungsschutz für Kapitalanlagen meist ausgeschlossen wird. Allerdings hat der Bundesgerichtshof (BGH) bereits festgestellt, dass eine solche Ausschlussklausel unwirksam sein kann. Bei manchen Versicherern gibt es dennoch Obergrenzen, bis zu denen Streitigkeiten um Kapitalanlagen abgedeckt sind.