Wer die Vorfahrt anderer Verkehrsteilnehmer:innen missachtet, haftet für die daraus entstehenden Schäden. Einzige Ausnahme: Der oder die Vorfahrtsberechtigte hat ebenfalls gegen Verkehrsregeln verstoßen. Was aber passiert, wenn Unfallhergang und -verursacher nicht mehr ermittelbar sind, musste jetzt das Landgericht (LG) Stralsund entscheiden. Die Lösung des Gerichts: eine 50:50-Haftung.
Umstrittener Unfallhergang vor Gericht
Vorfahrtsberechtigte Autofahrer:innen sind in Haftungsfragen meistens fein raus. Schließlich dürfen sie darauf vertrauen, dass sich die übrigen Verkehrsteilnehmer:innen an die Straßenverkehrsordnung (StVO) halten und niemand in sie hineinfährt. Doch ein aktueller Fall des LG Stralsund zeigt, dass es auch Situationen gibt, in denen ihnen eine Mithaftung trotz Vorfahrt drohen kann.
Konkret ging es um zwei Fahrzeugführer:innen, die in einen Verkehrsunfall verwickelt waren und nun vor Gericht darum stritten, wer für die Schäden aufkommen muss. Der genaue Unfallhergang blieb unklar. Fest steht nur, dass es an einer Kreuzung zwischen den Beteiligten gekracht hat, als die Beklagte nach links abbiegen und in die Straße hineinfahren wollte, in der die Klägerin mit ihrem Fahrzeug stand.
Im Prozess gaben sich die Parteien gegenseitig die Schuld für den Unfall:
- Die Klägerin behauptet, dass ihre Unfallgegnerin die Kurve beim Einbiegen zu sehr geschnitten habe und es dadurch zur Kollision gekommen sei. Sie selbst habe bloß an der Kreuzung gewartet.
- Die Beklagte sagte das genaue Gegenteil aus: Sie habe sich beim Abbiegen weit rechts gehalten. Es sei die Klägerin gewesen, die ihre Vorfahrt missachtet und so den Zusammenstoß verursacht habe.
Anscheinsbeweise führen zur Mithaftung trotz Vorfahrt
Da selbst der Gerichtssachverständige den Verkehrsunfall nicht eindeutig rekonstruieren konnte, musste das LG auf Anscheinsbeweise zurückgreifen, um über die Haftungsverteilung entscheiden zu können. Die Richter:innen kamen letztendlich zu dem Schluss, dass die wenigen vorhandenen Informationen und Tatsachen gleichermaßen für und gegen eine Mitschuld beider Unfallbeteiligten sprechen. Aus diesem Grund hielt das Gericht eine Haftungsquote von 50:50 für angemessen.
Hinweis: Anscheinsbeweis
Der Anscheinsbeweis ist eine Methode der Beweisführung im deutschen Prozessrecht. Dabei schließt das Gericht anhand von Erfahrungssätzen und typischen Geschehensabläufen von bewiesenen auf nicht bewiesene Tatsachen. So wird beispielsweise bei Auffahrunfällen davon ausgegangen, dass der oder die Fahrer:in des auffahrenden Fahrzeugs Schuld am Unfall hat, bis das Gegenteil bewiesen ist.
Vorfahrt ist kein Freifahrtschein
Das Urteil des LG Stralsund zeigt, dass die Berechtigung zur Vorfahrt Sie nicht automatisch von einer Haftung ausschließt. Denn: Entscheidend für die Haftbarkeit ist immer, wer inwiefern Mitschuld am Unfall trägt. Kann das Gericht diese Frage nicht zweifelsfrei bestimmen, nimmt es in der Regel eine sogenannte hälftige Schadensquotelung an. Im Zweifel droht Ihnen also eine Mithaftung trotz Vorfahrt.
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