Technologisch wie ideologisch veraltet, überfordert, unterfinanziert – so lautet das harsche Urteil für das deutsche Justiz-System, zu dem die jüngst veröffentlichte Studie „Die Zukunft der digitalen Justiz“ kommt. Überraschend ist das nicht: Kritik an der hiesigen Justizlandschaft gibt es schon lange. Doch deckt die Studie im Ländervergleich konkrete Lösungsansätze auf, die als Chancen be- und ergriffen werden sollten.

Das deutsche Justiz-System – Stand heute

Mängel hat das deutsche Justiz-System viele: Neben der technologischen Zurückgebliebenheit, bereitet auch die Personallandschaft Sorge. Der ohnehin schon vorherrschende Fachkräftemangel – dazu haben wir kürzlich eine eigene Analyse veröffentlicht – kann in naher Zukunft zum echten Problem werden. Immerhin kündigt die Studie eine Pensionierungswelle an, die dazu führt, dass bis 2030 mehr als 25 % aller Richter:innen in den Ruhestand gegangen sein werden. Dabei sind Gerichte schon jetzt überfordert – das hat bereits medial Wellen geschlagen.

Doch zurück zum technologischen Aufholbedarf. In der deutschen Justiz herrscht ein Tool-Wirrwarr vor. Ein grundsätzliches Problem ist laut Studie, dass die vergleichsweise rar gesäten technischen Lösungen veraltet sowie wenig nutzerfreundlich sind. Zudem wurden sie von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich umgesetzt. Allein für digitale Akten (eAkten) gibt es demnach an die 50 unterschiedliche Lösungen.

Die Digitalisierung in der Justiz hinkt hierzulande rund zehn bis 15 Jahre hinter den führenden Ländern wie Singapur, Kanada, Großbritannien und Österreich hinterher. Ursächlich hierfür sind demnach u.a. mangelnde Technologie-Affinität und fehlende Bereitschaft vonseiten des Personals, sich mit digitalen Lösungen auseinanderzusetzen. Nicht zu verschweigen ist auch die zweifelhafte Tatsache, dass in Teilen Deutschlands selbst die Internetverbindung nach wie vor problematisch ist – Defizite auf allen Ebenen des juristischen Sektors also.

Pandemie und andere Impulsgeber

Die Corona-Pandemie hat der Justiz einen Anstoß gegeben. Immerhin haben digitale Anhörungen und Videokonferenzen Einzug in deutsche Gerichtssäle erhalten. Dieser erste Schritt sollte als Chance begriffen werden – er verlangt regelrecht nach dem Ausbau digitaler Strukturen. Und so ist ein Wandel in der Justiz zu erwarten.

Know-how und Ideen sind vorhanden: Innerhalb von Justiz und Verwaltung gibt es Arbeitsgruppen, die sich mit technologischen Möglichkeiten beschäftigen. Angehende Rechtschaffende und Informatiker treibt die Thematik nicht minder umher. Legal Tech Angebote widmen sich dem Abbau von Hürden im Rechtsmarkt für Verbraucher:innen und bieten zunehmend Online-Rechtsdienstleistungen an.

Das zeigt den Studieninitiatoren eindeutig: Es mangelt nicht an Interesse. Vielmehr leitet sich daraus die Chance ab, die vorhandenen Kräfte zu bündeln und gemeinsam digitale Möglichkeiten zu erschließen. Die jedenfalls sind mannigfaltig:

  • div. Kommunikationstechnologien
  • mobile und digitale Signaturen für Gerichte
  • Videoanhörungen und -konferenzen
  • Cloud-Speicherplattformen
  • Plattformen zur Fallverfolgung und digitale Fallverwaltung
  • interaktive Tools zur Selbsteinschätzung etc.

All diese Lösungen sind in den Vorreiterländern Singapur, Kanada, Österreich und Großbritannien mehr oder weniger ins Justiz-System integriert. Somit ist ein wichtiger Maßstab gegeben.

Visionen: Der Rechtsmarkt der Zukunft

Für Studieninitiatoren und -mitwirkende ist klar: Die Digitalisierung des Justiz-Systems ist möglich und wünschenswert – wenn auch der Weg dorthin ein enormes Maß an Einsatzbereitschaft und Ressourcen bedarf. Das hochgesteckte Ziel sollte dabei sein: Die führende Rolle im Bereich Digitalisierung in der Justiz einzunehmen.

Dieses Ziel vor Augen, ergeben sich folgende Eckpfeiler für das Verständnis einer modernen Rechtsstaatlichkeit:

  1. Gleichheit vor dem Gesetz
  2. Rückwirkungsverbote
  3. öffentlich zugängliche, transparente und einheitliche Gesetze und Verfahren
  4. eine unabhängige Justiz

Mit Blick auf die Digitalisierung bedeutet das: Rechtsstreitigkeiten werden online eingeleitet und ohne physisches Anwesenheitserfordernis beigelegt werden. Zumindest bei fehlender bzw. geringer Fall-Komplexität sollte eine Online-Abwicklung Standard werden.

Umsetzbarkeit und was es dazu braucht

In Singapur ist die Digitalisierung der Justiz bereits seit den frühen 1980-er Jahren eine breit angelegte Regierungsstrategie. Klar, der Zug ist in Deutschland mit einem technologischen Rückstand von zehn bis 15 Jahren längst abgefahren. Dennoch können wir uns bei den Vorreiterländern einiges abschauen.

  • Wir brauchen ein klares Bekenntnis, das nutzerorientierte und Software-gestützte Lösungen zur Prozessoptimierung in den Vordergrund stellt.
  • Die angestrebte Effizienzsteigerung muss dazu führen, dass Verfahren beschleunigt werden.
  • Die gesetzlichen Möglichkeiten zur systematischen Erfassung, Analyse und Verwertung von Daten müssen ausgereizt werden, um Prozesse fortwährend zu optimieren.
  • Vorhandenes Wissen muss gebündelt und genutzt werden – auch aus dem privaten Sektor, aus dem Legal Tech-Umfeld etwa.

Es gilt jetzt dringend, Ängste und Bedenken abzuschütteln. Nicht zuletzt der – sich künftig wohl noch weitere verschärfende – Fachkräftemangel erfordert geradezu die Bereitschaft, technologische Neuerungen zu integrieren und so für Entlastung zu sorgen. Und letztlich profitiert nicht nur die Justiz, sondern alle an einem Prozess Beteiligten – sprich: die Verbraucher:innen.

Über die Studie
Die Studie „Die Zukunft der digitalen Justiz“ bzw. „The Future of Digital Justice“ ist ein Gemeinschaftsprojekt des Legal Tech Verband Deutschland, der Boston Consulting Group und der Bucerius Law School. Wir haben den Legal Tech Verband als langjähriges Mitglied der Organisation bei Konzeption und Realisierung der Studie unterstützt.